Grossvaters Gilet und der Hochdorfer Crash

Von Hedi Wyss

 

"Mein Vater trug immer ein weisses seidenes Gilet." Ein Satz, der immer wieder kam, wenn meine Mutter aus ihrer Jugendzeit erzählte. So sah ich denn diesen Mann, der zwanzig Jahre vor meiner Geburt gestorben ist, durchs Zimmer rennen, die Manschetten seines Hemdes offen, fliegende Hosenträger hinter sich. Und er ruft, mit der Stimme meiner Mutter, die ein Lachen unterdrückt: "Mameli, wo isch mis schiisse Wilet?" lrgendwo in dem Zimmer mit hohen Fenstern und schweren Vorhängen steht meine Grossmutter, schlank, im hochgeschlossenen Taftkleid, eine lange Kette über dem Busen. Dieselbe Kette, die ich jetzt beim Schreiben trage. "Mameli, wo isch mis schiisse Wilet?" Meine Mutter wiederholte den Satz mit stolzer Rührung, weil der fromme Papa diesen kleinen unanständigen Witz im Repertoire hatte. Wenn sie dann weiter erzählte, sah ich den Mann mit dem üppigen weissen Bart, den ich nur von dem Porträt kannte, das auf unserem Buffet stand, den schwarzen Gehrock anziehen, die Kette seiner Taschenuhr ins Gilettäschchen stecken und den samtenen Schlapphut aufsetzen. Denn mein Grossvater war ein Dichter. Gilet, Schlapphut, Bart und Zwicker gehörten zu diesem Dichtertum, von dessen Nimbus meine vielen Onkel und Tanten ihr Leben lang zehrten. Das gab auch meiner Kinderzeit in einer Dreizimmerwohnung im Arbeiterquartier einen ganz besonderen Hintergrund.

 

Die Sätze meiner Mutter setzten meinen Grossvater mit einem Glas Wein diskutierend an einen Wirtshaustisch, sie liessen ihn zerstreut zwischen Kutschen und Fuhrwerken einhergehen und den Hut vor seinen vielen Kindern ziehen, die hinter vorgehaltener Hand kicherten, weil er sie nicht erkannte, wenn sie höflich "guten Tag, Herr Halter" riefen.

 

Die Gedichte in den zerlesenen Lyrikbändchen meines Grossvaters, die auf dem Büchergestell einen Ehrenplatz hatten, handelten von einem idyllischen Bauerndorf, vom See gesäumt, mit grünen Wiesen und weissen Schneebergen im Hintergrund. lch kannte den Namen: Hochdorf, da war mein Grossvater 1856 geboren, und später all seine zehn Kinder, davon handelten die Geschichten meiner Mutter.

 

Ein kleines Mädchen mit bebändertem Strohhut und Knopfstiefelchen, entwischte sie den Kindermädchen im Hotel, hüpfte vom Tischler zum Schmied und von da zum Schuhmacher, um ihnen bei der Arbeit zuzusehen.

 

Dann aber kam die Vertreibung, der Umzug nach Luzern, mit Geschichten von Geldsorgen und einem Vater, den die halbwüchsigen Töchter abends aus dem Wirtshaus nach Hause holen mussten. So viel wusste ich: Der Dichter, der eigentlich Amtsschreiber und Gerichtsschreiber war, hatte ein Hotel gebaut und Konkurs gemacht. ("Nein", berichtigte meine Mutter - "Nachlassstundung haben sie ihm gewährt, das ist weniger schlimm.")

 

Was war geschehen? War er zu oft diskutierend beim Roten am eigenen Wirtshaustisch gesessen? Hatte er, so gingen andere Geschichten, schreibenden und malenden Dauergästen keine Rechnungen präsentiert?

 

Frühsommer 2000: lch fuhr über Land, durchs Seetal. Da prangte am grünen Hang ein Schloss, Heidegg, grell renoviert. Auch dieser Name gehörte zu meinen Kindheitssätzen. Da gab's doch ein Gedenkzimmer für meinen Dichter-Grossvater, der so etwas wie eine lokale Grösse gewesen war. Stattdessen fand ich eine funkelnde Hotelküche und Vitrinen mit Kuriositäten aus dem Tal: Ein angerauchter Stumpen meines Grossvaters, des "Heimatdichters Peter Halter", und sein Augenschirm lagen neben den Helmen der alten Schlossherren. Und im obersten Stock, in einer Ausstellung über "Das Wirtschaftswunder Hochdorf", stand er plötzlich da, als schwarzweisses Foto in Lebensgrösse. Der Bart besser gestutzt als auf allen Bildern, die ich von meiner Kindheit her kannte, kein weisses, sondern ein schwarzes Gilet. Daneben sass meine Grossmutter, mit jungem, glattem Gesicht, den Arm aufgestützt auf einem kleinen eleganten Gartentisch. Mir war einen Augenblick lang, als würden die Fotoaugen mich wahrnehmen. Mich, die Enkelin, von der mein Grossvater nie etwas geahnt hat, weil er zwanzig Jahre vor meiner Geburt gestorben ist.

 

Hinter meinen Grosseltern war eine Bühne aufgebaut. Die Gassen von Hochdorf als Bühnenbild, auf den Brettern ein Kaplan im Messeornat und der Held Winkelried in der Rüstung, wie er Abschied nimmt von Weib und Kind. Durch Knopfdruck konnte man ab CD die englische Zusammenfassung eines Schauspiels hören, das mein Grossvater geschrieben hat: Wie Winkelried sich opfert für die Eidgenossen. Aber Kaplan Hüsler, der Darsteller des Winkelrieds Theophil Schmidlin und Peter Halter standen da als Protagonisten in einem realen dramatischen Geschehen, das sich um die Jahrhundertwende in Hochdorf abspielte. Die Kindheitserinnerungen meiner Mutter sind Teil einer Lokalgeschichte, die bezeichnend ist für jene Jahre und doch einmalig in ihrer Dimension. Das Wirtschaftswunder in Hochdorf zwischen 1888 und 1914 spiegelt den Zeitgeist: Fortschrittsglauben, Technik- Euphorie und fast tollkühner Unternehmermut, kombiniert mit sentimentalem Patriotismus, Naturschwärmerei und Verehrung romantisch-heldischer Heimatmythen.

 

Mein Grossvater war also kein weltfremder Dichter im Elfenbeinturm. Er und seine Frau führten das Restaurant Sommerhaus, und meine Grossmutter, so erzählt mir die betagte Frau Frida Felix, war im Dorf berühmt für ihre Kochkünste. lhr Vater hat als Bub Frau Halter Krebse aus dem Bach zum Zubereiten gebracht. Frau Felix ist eine von denen, die die Lokalgeschichte kennen. Sie hat als Angestellte im Amtshaus ein einzigartiges Archiv alter Fotos zusammengetragen. Eine der eindrücklichsten unter ihnen ist für mich eine Ansicht des Schauspielhauses, gleich hinter dem Bahnhof, mit seinem turmartigen Aufbau. Genau dort ragt jetzt der Siloturm der landwirtschaftlichen Genossenschaft in die Höhe.

 

Für dieses Haus schrieb mein Grossvater den "Winkelried" offenbar im Auftrag von Theophil Schmidlin. Schmidlin war 1889 als Direktor der Seetalbahn nach Hochdorf gekommen. Die schweizerische Seetalbahngesellschaft war 1881 in London gegründet worden, und schon 1883 verkehrte die erste und einzige Normalspur-Strassenbahn von Lenzburg bis Emmen. Sie sollte, so der Prospekt für die Aktionäre, eine wichtige Verbindung zwischen ltalien und Deutschland sein. Aber bis Schmidlin nach Hochdorf kam, warf sie zu wenig Gewinn ab. lndustrie und Tourismus sollten nun die nötigen Frequenzen bringen. Schmidlin verstand es, die richtigen Fäden zu lnvestoren und lndustriellen zu knüpfen. Bald hatte Hochdorf viele neue Betriebe - eine Schokoladenfabrik, eine Ziegelei, eine Brauerei, eine Kunststeinfabrik, eine Sessel- und Möbelfabrik, eine Schifflistickerei, eine Fabrik für Parfüms und Seifen, für Metallbau und Maschinen. Man holte Fremdarbeiter und Fremdarbeiterinnen aus ltalien.

 

Ein riesiges Festspielhaus wurde gebaut. Mit 1300 Sitzplätzen und raffinierter Bühnentechnik war es das grösste und modernste in der Schweiz. Auf dieser Bühne wurde 1900 erst Schillers "Tell", in der nächsten Saison dann meines Grossvaters Heldenstück "Winkelried" aufgeführt. Ganze lebende Pferdegespanne, ein vollständiger Alpaufzug mit Kühen und Geissen hatten auf der Bühne Platz. Und die Dampflokomotiven der Seetalbahn lieferten für Gewitterszenen und neblige Morgenstimmung die Wolken.

 

Herr Schmidlin spielte die Hauptrolle, mein Grossvater den Hofnarren. Aus ganz Europa reisten die Damen und Herren mit Extrazügen an, um Winkelried sterben zu sehen. Am meisten Tränen wurden bei der Szene vergossen, so ist überliefert, in der Winkelried von seiner Gattin Abschied nimmt. Schmidlins Frau und Kinder spielten - offenbar sehr gefühlvoll - die Familie Winkelried. Das ganze Dorf trat auf. Denn die Schlachtszenen, verewigt auf Fotos in gestellten Bildern, waren monumental. Und das Marketing mit Souvenirs, Postkarten und Prospekten in mehreren Sprachen war ebenfalls sehr professionell.

 

Doch die Zuschauerzahlen gingen im zweiten Winkelried-Sommer so sehr zurück, dass man von weiteren lnszenierungen Abstand nehmen musste. Das Schauspielhaus wurde schon 1903 als Lagerhaus umgenutzt. Nun setzte man mehr auf den Sommertourismus. Mein Grossvater baute ein Hotel gleich neben dem Bahnnof, und meine Grossmutter wechselte als Wirtin vom Restaurant Sommerhaus ins elegante Hotel Post. Auf alten Prospekten ist der schöne Platanengarten mit grosser Freitreppe zum Bahnhof hinunter abgebildet.

 

Das alles ist verschwunden. lch sitze jetzt auf einem weissen Plasticstuhl im "Los Latinos". Junge Männer, die breiten Luzerner Dialekt sprechen und dazwischen Türkisch und Spanisch parlieren, servieren Pizza und Tacos. Die Giebel des einstigen Jugendstilhotels sind in einem gelben Neubau, der nicht so recht weiss, was er sein soll, nachempfunden. Und über die Gleise, auf der moderne S-Bahn-Wagen fahren, führt eine Brücke mit leer stehenden Büroräumen, die das alte, sorgfältig renovierte Bahnhofgebäude fast erdrückt.

 

Das Restaurant Sommerhaus gegenüber aber gibt es noch. Jetzt ist's eine Dorfbeiz mit Garten, wo heute die Sozis und die Arbeiter verkehren. Wenn das mein Grossvater wüsste! Der schrieb doch um die achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts einen politischen Gedichtzyklus gegen die Liberalen. Denn er war ein treuer konservativer Katholik. Katholisch und bürgerlich war man hier in Hochdorf. Neben Schmidlin, der für den wirtschaftlichen Aufschwung sorgte - er sass in allen Verwaltungsräten -, und meinem Grossvater, spielte Kaplan Hüsler als Dritter auf der Hochdorfer Bühne eine wichtige Rolle. Er kümmerte sich um das seelische und leibliche Wohl der Arbeiter und Arbeiterinnen. Sie waren, streng nach Geschlechtern getrennt, in Arbeitersiedlungen und Pensionen untergebracht. lm "Marienheim" wurden die Arbeiterinnen der Schokoladenfabrik Lucerna und der Schifflistickerei von Nonnen des Klosters Baldegg betreut. Hier herrschten, wie im "Josefsheim" für Männer, strenge Regeln. Tugend, Frömmigkeit und vor allem die Arbeitskraft für die 65-Stunden-Woche sollten erhalten bleiben. Die Pension Eintracht allerdings wurde schon früh zum Zentrum für die sozialpolitischen Bewegungen, die 1907 in Hochdorf den ersten Generalstreik in der Schweiz anzettelten.

 

Handelsherren und Bankiers und die spärlichen Touristen logierten im Hotel Post, im Hotel de la Croix und im Hotel du Cerf. In aufwendigen Prospekten und in einem eigens konzipierten Wanderführer wurden die Naturschönheiten des Tals, die modernen Errungenschaften der lndustrie, das Kulturleben und die luxuriösen Hotelzimmer angepriesen. Heute gibt's nur noch das "Kreuz" mit Spielsalon, Night-Club und, wie man sagt, noch weiteren diskreten Dienstleistungen. Der feudale Jugendstilsaal im "du Cerf", derjetzt "Hirschen" heisst, ist abgerissen, und die Jugendlichen treffen sich dort in "Oliver's Pub".

 

"Und dann schickte uns die Mama hinunter zum Lokomotivführer, dem mussten wir ausrichten, sie habe den Kaffee noch nicht ausgetrunken. Er solle bitte warten mit der Abfahrt." Auch ein Erinnerungssatz meiner Mutter. Da steht sie also, meine Grossmutter, im weiten schwarzen Kleid, den Hut auf den grossen Wirtshaustisch gelegt, eine Porzellantasse in der einen Hand. Und unter ihrem Rock hervor tönt ein leises Knurren. Denn so verteidigte der kleine Hund "Ami" die Mama gegen jeden, der ihr zu nahe kam. Erst jetzt verstehe ich dieses Bild, das ich mir aus den Sätzen meiner Mutter geschaffen habe. Meine Grosseltern waren ein prominentes Paar in einer Ortschaft, die sich, so die bewundernden Zeitungsberichte, in "amerikanischem Tempo" entwickelte. Und deshalb richtete sich die Abfahrtszeit der Bahn danach, ob Frau Halter ihren Kaffee schon ausgetrunken hatte oder nicht.

 

Zwischen 1900 und 1907 hatte sich Hochdorfs Bevölkerung fast verdoppelt, von den rund 3000 Einwohnern waren ungefähr 800 Fabrikarbeiter. Viele kamen von weit her, es gab lntegrationsprobleme, die Löhne waren schlecht: 18 bis 25 Rappen pro Stunde, das gab höchstens einen Wochenlohn von Fr. 16.25. Und natürlich waren die Frauenlöhne noch um ein Drittel oder die Hälfte tiefer.

 

Während die Arbeiter sich abrackerten, pflegte das Bürgertum ein angenehmes Leben städtischen Zuschnitts. Vom Coiffeursalon zur gepflegten Conditorei, vom photographischen Atelier bis zum Consumverein siedelten sich in den Jahren zwischen 1900 und 1910 viele Geschäfte an. Höhepunkt städtischen Formats war das Kaufhaus "Au Louvre" mit einem breiten Angebot an Kleidern und Haushaltswaren zu erschwinglichen Preisen.

 

Die finanzkräftigen Bürger und Geschäftsleute vergnügten sich im Casino, einem eleganten Bau im italienischen Neurenaissancestil, (erbaut von August Ferrari, später wurde es sein Wohnsitz). Hier gab es einen exklusiven Sportklub mit Eisbahn und Tennisplätzen. Doch der hohe Mitgliederbeitrag war für gewöhnliche Bürger unerschwinglich. Das Casino wurde als "Pelzmühle" auch von meinem Grossvater geschmäht, wie meine Mutter erzählte. Hat er also nicht dort verkehrt, sondern als Mitglied des christlichsozialen Arbeitervereins auf der Seite der Arbeiter gestanden? Allerdings waren auch etliche andere Gewerbetreibende und Behördenmitglieder in dieser Vereinigung, die das leibliche Wohl der Arbeiterschaft und ihre Bildung zum Ziele hatte.

 

Die Autobiographie meines Grossvaters hört da auf, wo er sich nach etlichen Wanderjahren als junger Mensch wieder in Hochdorf niederlässt. lch wüsste gern, ob er öffentlich zum Generalstreik Stellung genommen hat, zu dem Gerangel am 21. Juli 1907, bei dem ein Geschäftsinhaber mit dem Revolver auf randalierende Arbeiter eindrosch, so dass sich ein Schuss löste; und was er dachte, als am Tag danach die Füsilierkompanie ll/44 in Hochdorf 580 streikende Arbeiter vertrieb, die mit roten Fahnen die Baldeggstrasse entlang marschierten.

 

Ein paar Lohnerhöhungen und eine gewisse Reduktion der Arbeitszeit wurden zwar durchgesetzt, aber die Streikführer entlassen und teilweise sogar des Landes verwiesen.

 

"Als wir in der Stadt wohnten, hatten wir so wenig Geld, dass es nur am Sonntag Butter gab. Hundert Gramm für eine Familie mit zehn Kindern. Stell dir vor! Und weil der Ami jedem Auto, Fuhrwerk oder Velo bellend nachrannte und nicht mehr zu halten war, mussten wir ihn weggeben!"

 

Kein Geld, eine kleine Wohnung in der Hirschmattstrasse 56, meine Mutter, die mit sechzehn die Haushälterin ersetzen musste. Lange schien das wie eine Katastrophe aus dem Nichts. Unvereinbar mit den Geschichten von Dichterruhm und feudalem Hotel. Aber die Geldschwierigkeiten meines Grossvaters, so weiss ich jetzt, waren Teil eines allgemeinen gigantischen Crashs, der auf das Wirtschaftswunder in Hochdorf folgte. Man hatte hoch gepokert. Vor allem der Bankier Heinrich Burkhardt, der 1894 95 Prozent der Seetalbahn-Aktien erwarb, investierte hohe Summen in die lokale lndustrie. 1908 war die Bahngesellschaft mit über 2 Millionen in den lokalen Unternehmen engagiert. Und 1909 fiel das Kartenhaus zusammen. Die Bank Burkhardt & Cie. wurde liquidiert. Etliche Unternehmen machten Konkurs, wurden verkauft oder notfallmässig saniert. Das hatte Folgen für das Hotel Post. Die Logiernächte von Geschäftsleuten gingen zurück, Rechnungen wurden nicht bezahlt. Das Hotel wurde verpachtet, und die Familie zog nach Luzern. ln einem Schreiben an den Direktor der Luzernischen Volksbank in Hochdorf, den mein Grossvater 1916 um Verlängerung der Betreibungsstundung bittet, begründet er die andauernden Finanznöte mit der "Unfähigkeit der Pächter, den Abgang der Ortspensionäre durch Herzug von Sommerkuranten zu ersetzen".

 

Ein Drittklässler schlendert durch die Strassenunterführung von der Schule nach Hause. Er geht ins "Peter Halter", das ist das älteste Schulhaus Hochdorfs, kürzlich supermodern umgebaut. "Ja, da ist so ein Stein neben dem Schulhaus", sagt er, "und im Eingang steht etwas von Lied und Heimat." Von den drei Protagonisten des Hochdorfer Wirtschaftswunders ist Peter Halter der einzige, von dem der Name noch präsent ist im Dorf, obschon er sicher nicht so viel bewegte wie Schmidlin und Hüsler. "Ja, klar weiss ich, wer Peter Halter war", sagt die alte Frau, "das ist der mit dem Brunnen vor der Kirche!" - "Sicher kenn ich den", sagt ein Teenager, "der war mit mir in derselben Klasse, und alle haben ihn geneckt, weil er gleich hiess wie unser Schulhaus."

 

Der Verkehr braust durch die Hauptstrasse an den Fassaden der alten Villen vorbei, die in der Gründerzeit aus dem Dorf eine elegante Kleinstadt machten. Noch immer ahnt man hinter Efeubewuchs und trotz Baufälligkeit die Eleganz dieser herrschaftlichen Häuser. Das Casino ist verschwunden, aber der "Louvre", der bis in die sechziger Jahre ein Kaufhaus war, steht noch da, jetzt mit einem Möbelgeschäft im Erdgeschoss. Ein riesiger Kran ragt neben dem Brauiturm auf, mit der Aufschrift "Odoni". lch kannte lange nur die Geschichte, wie meine Onkel mit "dem jungen Odoni" einmal um die Wette pinkelten und dafür Prügel bekamen. Die Firma des Bauunternehmers Odoni, der vor der Jahrhundertwende aus ltalien hierher zog, hat überlebt, wie andere Unternehmen auch: die Schweizerische Milchgesellschaft, die Kunststeinfabrik der Ferraris, die jetzt in Baldegg als Kiener AG weitergeführt wird, die Maschinenfabrik und die Möbelschreinerei. Die Brauerei wurde erst vor wenigen Jahren geschlossen, nachdem Feldschlösschen sie aufgekauft hatte. Jetzt steht der alte Brauiturm als Kulturzentrum mit Kleintheater, Konzertsaal und Freizeitzentrum mitten in einem hochmodern gestalteten neuen Dorfkern.

 

lch gehe über den Kirchplatz, der vollgestellt ist mit Autos. ln der Barockkirche ist es leer und feierlich, und das Buch bei der hinteren Türe ist voller inniger Bitten an Herrgott und Heiland. Hochdorf ist katholisch, aber tolerant und kosmopolitisch zugleich. Wie es immer war, versichert mir Albert von Wartburg, der wie Frau Frida Felix die ganze Ortsgeschichte im Kopf hat. Und eine alte Frau mit italienischem Akzent, die ich nach dem Weg frage, spricht von den vielen Fremden, die neuerdings hier seien. Unten im Brauiturm wird eben für eine sechshundertköpfige türkische Hochzeitsgesellschaft aus Littau, nahe Luzern, gedeckt.

 

 

 

Quellen:

Bilder: Familienarchiv

Wirtschaftswunder Hochdorf 1880-1914, Comenius Verlag, Hitzkirch

oder Kauf bei einem Besuch im Schloss Heidegg