Unveröffentlichte Prosa

 

Wachset und mehret Euch

Es war grosse Mission im Dorfe. Für die Kinder war es ein Fest. Neben den Goldschnittbüchlein, den glitzernden Rosenkränzen und Kruzifixen und farbigen Muttergottes- und  Heiligenbildern waren auch Lebküchleinstände. An diesem Tag war schulfrei.

Die Predigt war zu Ende, die Orgelklänge durchrauschten das Heiligtum und zitterten nach an den farbigen Glasfenstern, als verfingen sich darin die gewobenen Brokate der Engelsgewänder. Ein blauer Weihrauchduft stieg vor dem Hochaltar auf und nur wie durch einen Schleier sah man noch die Heiligenbilder. Der Priester senkte die Monstranz mit der weissen Hostienlilie. Die kniende Menge erhob sich um durch das Hauptportal, eingeengt wie eine gestaute Flutwelle, ausgestossen zu werden.

 

Eine Frau blieb noch sitzen. In ihrer Seele hatte die Predigt eine mächtige Bewegung hervorgebracht. Es war doch eine gar gute Seele, die eines unschuldigen Kindes. Aber ein leichtes Gruseln überkam Babeli, als ihm die Stimme des Predigers immer und immer wieder in die Ohren tönte: "Wachset und mehret euch, hat Gott den Menschen zugerufen. Wie viele sind es gerade in der Neuzeit, die sich ihren heiligsten Pflichten entziehen und wie der ungetreue Knecht ihre Talente vergraben. Warum wollen viele keine Kinder: Aus Selbstsucht, aus Bequemlichkeit oft auch aus Geiz."

 

Der Prediger hatte noch allerhand gesagt, was ihr in ihrer Jungfräulichkeit ganz spanisch vorgekommen war. Es hatte den Blick demütig auf den Rosenkranz gesenkt. Als Babeli endlich die Kirche verliess, sah es nicht hinunter, wo die Leute vor dem neuen Missionskreuze auf den Knien waren. Sie ging das erste Mal seit Vaters Tod an dessen Grab vorüber ohne die Rosenzweiglein, welche der Wind etwa verschoben, zurecht zu richten, ohne das Sefischoss ins Weihwasser zu tauchen und zur Kühle des Fegefeuers seinen und die Hügel der Nachbarn zu besprengen. Ins Beinhaus sah sie nicht hinein. Sie mochte es nicht ansehen das Bild, wo die armen Seelen aus roten Feuerflammen ihre Arme erheben und im Fürgebet flehen. Sie fühlte sie sich selber schon eingetaucht in den Sündenpfuhl.

Auf dem Dorfplatze rief ihr eine Marktfrau zu: "He, gute Frau, kramet etwas! Schöne Beichtspiegel!" Da meinte Babeli, das mit der Frau sei auf sie gemünzt und das mit dem Beichtspiegel entsetzte sie, da man ihr soeben den Spiegel vor ihre schwarze Seele gehalten habe, wie sie meinte.

Daheim war ihre Schwester die Lisette gerade beim Anfeuern zum Kochen und sah trotz der Predigt ganz gemütlich in das flackernde Feuer, tat die schwarze Pfanne über und goss die Milch mit grosser Ruhe hinein. Babeli dachte, sie sei eben schwerhörig und nahm sich vor, ihr die Fliegen des Paters schon in die Ohren zu setzen. Beim Nachtessen gab es folgendes Gespräch.

- Lisette, hast du die Predigt gehört?

- Du weisst ja, dass ich nicht gut höre. Da lese ich im Palmgärtlein mit den grossen Buchstaben.

- Der Pater hat schön gepredigt. Auf uns hat er gepickt.

- Was Du nicht sagst!

- Es sei nicht gut, dass der Mensch allein sei.

- Wir sind ja zu zweit!

- Das ist nicht so gemeint: Wachset und mehret euch, hat er gesagt.

 

Babeli erzählte die Predigt nach. Lisette riss den Mund auf.

 

- Jere Marie! Das hat er gesagt!

 

Vorläufig blieb es bei diesem Ausspruch. Kopfschüttelnd nahm sie die Tischbürste und strich über den Tisch mit einer Wucht, als ob sie mit den Brosamen auch alle schweren Gedanken wegwischen wollte. Es ging ein Schatten durch die Stube. Der Kanarienvogel konnte pfeifen wie er wollte, Lisette sagte ihm kein kosend Bubi, Mimi die Katze mochte um ihre Beine streichen, wie sie wollte, es kraulte ihr keine Hand das schwarze Fell. Babeli begoss nicht einmal ihre Geranien, was ihr nach dem Nachtessen stets das Erste war. Das Babeli sah die Lisette und die Lisette das Babeli an und zwar vorwurfsvoll, das jedes merkte, das andere hätte sich für das Wachstum der Menschheit aufopfern sollen. Schliesslich als die Blicke gegenseitig immer heisser und tiefer gingen, mussten die Augenblitze Pulver getroffen haben, es gab eine plötzliche Entladung. Lisette fuhr auf und warf die Scheube auf die Kommode:

 

- Du hättest eigentlich wohl heiraten können. Der Schneiderhänsel ist dir ja lang nachgelaufen.

- Was der, meinem Geld ist er nachgelaufen, das ruhte mir sicherer auf der Bank, als in der Hand dieses Luftibuses, der die Schere lieber, als zu ehrlicher Arbeit, zum Abschneiden der Obligationenzettel gebraucht hat.

- Warum hast Du nicht den Talweider genommen?

- Der war mir zu spitz, seine Nase gab mir immer einen Stich ins Herz. Ich dachte, da wäre der Speck und das Fleisch auf den Herdöpfeln auch gar dünn. Auch wollte wohl der geizige Bauer nur eine Umsonstmagd heiraten.

- Oder der Küderlifranz?

- Den Kalbshändler, der immer nach Stall und Kühen stank und an seinen Schuhen einen halben Miststockherumtrug. Das hätte gepasst für meine saubere Stub.

Dabei betrachtete sie liebevoll die blankgewichsten Würfel des Bodens und es schien ihr etwas Fürchterliches nur zu denken, dass da so ein männliches Ungeheuer mit kotigen Schuhen die Jungfräulichkeit ihres Stubenbodens hätte verunglimpfen können.

 

- Auch hat er hie und da einen Sarass heimgebracht. Nein, ich bin froh, dass ich ledig geblieben bin und wenn die ganze Welt ausstürbe – aber das ist ja nicht der Fall.

- Hättest du etwas besser auf den Gemeindeschreiber gehalten, der hat ja auch eine gesucht mit Rotnägeln. Hättest du den angenagelt.

- Ich bin ihm einmal zu lieb gelaufen und da sah ich gerade, wie er das Gemeindeammans Luisli beim Kinn nahm. Das sah ich als eine Fügung des Himmels zur Erkennung meiner weltlichen Torheit an. Du warst immer die Schärfere, da hättest du deine Gurasche brauchen können.

- Meinst du etwa ich hätte einem einen Heiratsantrag machen sollen? Oder ich – nein danke.

 

Und so zankten die guten Leutchen noch lange fort. Das erste Mal seit Jahren hörte jede der Schwestern, dass die andere noch wachte. Lisette erwog, wie schwer eigentlich ihr Vergehen sein konnte und dachte, einmal an einem Ort, wo man sie nicht kenne, etwa auf dem Wesemlin (Kloster in Luzern), sich Rat zu holen. Vorläufig aber praktisch wie sie war, dachte sie, wie man das Versäumte nachholen könne. Es kam ihr eine Idee. Sie wolle von ihrem Geld ein Jungpaar aussteuern. Hatte sie nicht ein herziges Gotteli, das Mareili, das bei des Verwalters dienen musste, und dass sie mit ein paar Tausendgülten zur glücklichen Frau machen konnte. Aber mit wem? Nein was frag ich – mit dem Feldhofpeter, der schafft etwas schwer.

Es war die Seelengemeinschaft der zwei alten Jungfern, die aus langer friedlichem Beisammensein und sich kennen, herauswuchs, auch Babeli kam ein ähnlicher Gedanke. Hab ich nicht einen flotten Götti, den Toni. Wenn ich ihm nur zu einer Frau verhelfen könnte. Er hat ein kleines Heimwesen. Greif ich ihm unter die Arme, kauf ich ihm noch einen Acker und etwa zwei bis drei Stück Vieh, dann könnte er ein Profitbauer werden. Mit der – ja wer – und schliesslich kam sie auf die Müllergret. Die, weil ihr Bruder erst geheiratet hatte, Anstalten machte, auszufliegen, und dem Toni noch erkleckliches zubrächte. Am Samstag bekam keine der Schwestern so recht den Mut, das Geheimnis, das sie bei sich trugen, zu offenbaren, namentlich den Antrag zu stellen, an die Kirchweih zu gehen.

Was würde die Schwester sagen, dachte jede bei sich, sie gottesfürchtige alte Kirchenwärterin plötzlich an der Kirchweih zu wissen, wo Männlein und Weiblein Arm in Arm bei heissen Wangen und pochenden Herzen schwitzend Liebesandacht feiern und die quietschende Geige und schmetternde Trompete zusammen mit der Handharmonika die jauchzende Tollheit einsingen.

Babeli hatte zuerst den Mut den Vorstoss zu wagen. In ihrem Vorschlage verband sie das fromme mit dem Fröhlichen. Es sind heute noch die Stationen für die Kirchmeyerin, da könnte ich den Anlass benützen, der Müllerin einmal einen Besuch zu machen, sie hat mich eingeladen, sind wir doch mit der linken kleinen Zeh etwas verwandt. Dieser Antrag entsprach insoweit, dass sie nicht in den Fall kam mit ihrer Absicht herauszurücken. Sie sagte einfach, sie komme auch zu den Stationen. Dabei kalkulierte sie: Während das Babeli zur Müllerin geht, begleite ich das Mareili zum Tanz. Bis Babeli all die Chüechli und Krapfen verzehrt und die beiden die Gemeindeangelegenheiten, Hochzeiten, Taufen, Gross und Klein durchgehechelt haben, hat das Mareili mit dem Peter angebunden.

An der Kirchweih dann hatten die Schwestern der Mutter zum guten Rat ihre Stationenandacht mit Inbrunst gebetet. Nachher hatte jede bei der Grossmutter und dem Erzkuppler Josef ihr Herzanliegen vorgetragen. So trafen sich die beiden am Beinhäuslein, Lisette steckte gerade eine Kerze am Licht an und Babeli zog eine Kerze aus einem blauen Papier hervor. Jede dachte, wofür sollen da die armen Seelen helfen? Das war das erste Geheimnis, das die guten Leutchen vor einander hatten.

Als die beiden noch in die Kirche gehen wollten, da kam auch noch Mareili und steckte eine dicke Kerze vor das Altärchen des heiligen Antonius von Padua. "Du hast doch nicht etwa etwas verloren?" frug die Gotte draussen im Heimgang. "Nein, aber man will mir was schenken, was ich nicht will", antwortete Mareili. Jesus, dachte die Gotte, hat die einen Abwillen vor dem Heiraten?

Auf einen bestimmten Tag hatten die Schwestern ihre Patenkinder vor sich berufen.

- Weisst Bub, begann Babeli, ich hab zur Kirchweih ein Grossgelübde getan, dass ich einem braven jungen Mann sein Heim aussteuern will. Was ich am Wundenkreuz im Friedhofseck gelobt, das ist mir heilig. Der liebe Gott will kein Versprechen, aber wenn man es in Herzenseinfalt und mit Lieb getan hat, dann soll man es halten. Dann soll man auch dem Herrn in der Tat den Altar stellen als Blumenschmuck des Herzens. Ich dacht an dich und dass du nicht heiraten willst, das tut mir in der Seele weh und leid, tut mir um dich leid, was ich meinem Götti zugedacht, nun an eine Fremder fallen soll.

 

- Ja, warum das?

- Ei, weil du nicht heiraten willst!

- Wer sagt denn, dass ich nicht will?

- Du hast doch keck und frisch erklärt, du habest einen bestimmten Widerwillen gegen das Heiraten.

- Ja, ja, mit der Müllergret, die will ich nicht.

- Aber du sagtest mir doch, du willst überhaupt nicht heiraten.

- Das habe ich gesagt, weil ich dachte, ich müsste die Müllergret nehmen, und da wollte ich lieber, es käme ein Bergsturz oder eine Sintflut, das Leben ist mir so keinen Pfifferling wert.

- Ja weisst du denn eine, die du magst?

- Liebe Gotte –

Der Bursche wurde rot wie das Jesuherz, da im gleichen Augenblick die Türe aufging, Lisette und hinter ihr Mareili hereintrat, als Mareili Toni erblickte, schoss das Rot einer Mohnblume in ihr Gesicht. Lisette sprach nun Mareili an.

- Dir Gotteli hab ich ein schön Teil meines Geldes testieren wollen, wenn du den Feldhofpeter heiratest, weisst ich habs gelobt, es muss zur Aussteuer eines Jungpaares her, und da du nicht willst –

- Ja, muss es denn gerade der Feldhofpeter sein? –

- Du verschworest dich ja nicht zu heiraten.

- Ja, wenn es diesen Grobköbi angeht, lieber bleibe ich ledig und streichle Katzen. Du vermachst dein Geld dem Grobköbi, statt dem armen Gottli.

 

Mareili begann heftig zu schluchzen. Aber da folgte eine Szene, dass der Kanarienvogel neugierig sein Schnäbelchen drehte und mit den klugen Äuglein durch die Käfigstangen guckte, die Tanten ihre Mäuler aufsperrten und die Hände zusammenschlugen. Der Toni hatte nämlich, als er das Mareili weinen sah, es bei der Hand genommen, trotzdem ihm selber die Tränen über die Wangen liefen und zu sich gezogen.

 

- Weine du nicht, wir sind jung und stark und bringen uns immer noch durch die Welt.

Und er machte, was die Gotten noch nie im Leben gesehen und nur so dunkel vom Hörensagen kannten, dem Mareili einen tröstenden Kuss. Dann wandten sich die beiden zum Gehen.

- Ja seid ihr dann – Kinder! rief Babeli und Lisette miteinander, - ihr Gotteskinder wollt einander heiraten? Ihr wollt einander heiraten?

- Ja emel nicht den Feldhofpeter.

- Und ich emel nicht die Müllergret.

Als Babeli und Lisette die beiden eingehender besahen, da dämmerte ihnen auf, dass die zwei eigentlich gar nicht übel zueinander passten.

 

Peter Halter

Quelle: Familienarchiv